| Er lebte in den Wäldern und lebte frei und allein | 
| Sein Reich ging von den Hügeln bis tief ins Land hinein | 
| Vom Bach bis an die Ufer seines Flusses und von da | 
| Hinab bis in die Täler, soweit sein Auge sah | 
| Er kannte jede Höhle und fast jeden Blaubeerstrauch | 
| Die Lieblingsplätze der Forellen selbstverständlich auch | 
| Und abends liebte er es sehr, im hohen Gras zu stehn | 
| An einen Fels gelehnt zu denken, und ins Land hinauszusehen | 
| So stand der Bär auch an jenem Nachmittag aus dem Fels | 
| Recht deutlich spürte er den Herbstwind schon in seinem Pelz | 
| Am Himmel sah er Wildgänse in Scharen südwärts ziehn | 
| Er gähnte oft, und er war müd', und es fröstelte ihn | 
| Er trottete zu seiner Lieblingshöhle durch das Laub | 
| Verscharrte noch den Eingang hinter sich und sprach: «Ich glaub' | 
| Es riecht nach Schnee», während er letzte Vorkehrungen traf | 
| Legte sich auf sein Lager und begann den Winterschlaf | 
| Er sollte recht behalten, es begann noch nachts zu schnei’n | 
| Der Winter zog in seinen Wald, der Boden fror zu Stein | 
| Ein eis’ger Wind sang in den klaren Nächten im Geäst | 
| Dem Bär'n in seinem Unterschlupf war warm, und er schlief fest | 
| Doch mit dem Winter kamen auch die Menschen in den Wald | 
| Sie fällten Baum um Baum, vermaßen, zäunten ein und bald | 
| Brachten Sie Kräne, Rohre, Bagger, Stahlbeton. | 
| Schon stand | 
| Genau über der Höhle eine Fabrik im Land | 
| Der Frühling kam, und gut gelaunt erwachte auch der Bär | 
| Tief unten in der Höhle, nur das Aufstehn fiel noch schwer | 
| Und als er dann schlaftrunken durch den engen Ausgang stieg | 
| Stand er ungläubig mitten auf dem Vorhof der Fabrik | 
| Da kam auch schon ein Pförtner brüllend auf ihn zumarschiert | 
| «Los du da, an die Arbeit, statt hier 'rumzustehn. | 
| Kapiert?» | 
| «Verzeihung», sprach der Bär verstört, «aber ich bin ein Bär!» | 
| «Jetzt reicht’s mir», schrie der Mann, «zum Personalchef, kein Wort mehr!» | 
| Der Personalchef war ein muffiger, verhärmter Mann | 
| «Ich bin ein Bär», sagte der Bär, «das sieht man mir doch an!» | 
| «Was ich sehe, ist meine Sache», sprach der Mann, «und du | 
| Bist ein dreckiger Faulpelz und noch unrasiert dazu!» | 
| Dann schubste er ihn zum Vizedirektor, der aktiv | 
| Und sehr ergeben unterwürfig den Direktor rief | 
| Der sprach und ließ dabei seinen Managersessel drehn | 
| «Unser Herr Präsident wünscht das faule Subjekt zu seh’n!» | 
| «Soso», sagte der Präsident, «Sie sind also ein Bär.» | 
| Er hatte das größte Büro und langweilte sich sehr | 
| Er war so mächtig, dass er keinen Schreibtisch mehr besaß | 
| Keine Krawatte tragen musste und nur Comics las | 
| «Wenn Sie ein Bär sind, bitte, dann beweisen Sie das auch!» | 
| Der Bär kratzte sich vor Verlegenheit über den Bauch | 
| «Nein, Bären gibt es nur in Zoo und Zirkus kurz und klein | 
| Genau dort hol’n wir jetzt ein Gutachten über Sie ein!» | 
| Die Präsidentenlimousine fuhr den Bär'n zum Zoo | 
| Und seine Artgenossen musterten ihn schadenfroh | 
| Und einstimmig erklärten sie, wer Auto fährt, und wer | 
| Nicht hinter Gittern lebt, sei alles andere als ein Bär! | 
| Die Tanzbären im Zirkus urteilten genauso prompt | 
| Weil wer nicht tanzt und radfährt, nicht als Bär in Frage kommt! | 
| Die Heimfahrt über dachte er: «Und ich bin doch ein Bär! | 
| Ich weiß es doch, ich weiß es», doch er wehrte sich nicht mehr | 
| Er ließ sich Arbeitszeug anzieh’n, und als man ihm befahl | 
| Sich zu rasier’n, rasierte er sich seine Schnauze kahl | 
| Stempelte seine Stechkarte wie jeder and’re Mann | 
| Und lernte, dass der Tag mit einem Hupsignal begann | 
| Er ließ sich an eine Maschine setzten, wo ein Griff | 
| Von rechts nach links zu dreh’n war, wenn eine Sirene pfiff | 
| Und wenn man das versäumte, leuchtete ein rotes Licht | 
| Das zeigte, ob der Mann daran grad' arbeitete oder ob nicht | 
| So stand er Tag für Tag an der Maschine, dreht stumm | 
| Den Griff von rechts nach links und danach wieder rechts herum | 
| Nur in der Mittagspause musst' er zum Fabrikzaun geh’n | 
| Um durch Maschinen und Stacheldraht ins Land hinauszuseh’n | 
| Die Osterglocken blühten und verblühten vor dem Zaun | 
| Ein Sommer kam und ging, der Herbst färbte die Wälder braun | 
| Am Himmel sah er Wildgänse in Scharen südwärts zieh’n | 
| Er gähnte oft, und er ward müd', und es fröstelte ihn | 
| Er gähnte immer mehr, je mehr er sich zusammennahm | 
| Er wurde immer müder, je näher der Winter kam | 
| Vom Wachen taten ihm oft mittags schon die Augen weh | 
| Er stand am Zaun und sagte vor sich hin: «Es riecht nach Schnee!» | 
| An dem Nachmittag schlief er glatt an der Maschine ein | 
| Hörte nicht die Sirene, nur den Personalchef schrei’n | 
| «He, du da, raus, du bist entlassen, hier ist dein Restlohn!» | 
| «Entlassen?», jubelte der Bär und machte sich davon | 
| Sein Bündel auf der Schulter, wanderte er ohne Ziel | 
| Einfach gradaus im Schnee, der schon in dicken Flocken fiel | 
| So ging er einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag | 
| Auf der Standspur der Autobahn, wo nicht so viel Schnee lag | 
| Mal zählte er die Autos, die er sah, doch ihm fiel ein | 
| Dass er nur bis fünf zählen konnte, und so ließ er’s sein | 
| Und dann am zweiten Abend sah er in der Ferne hell | 
| Im dichten Schneegestöber Neonbuchstaben: «Motel» | 
| Durchfroren, nass und müde trat der Bär an den Empfang | 
| Der Mann hinter dem Tresen rührte sich nicht und schwieg lang | 
| Tat unheimlich beschäftigt, um beiläufig zu erklär'n: | 
| «Wir haben keine Zimmer frei für Landstreicher und Bär'n» | 
| «Habe ich das Wort, Bär' gehört, sagten Sie, Bär' vorhin? | 
| Das heißt, Sie sind der Meinung, dass ich wirklich einer bin?» | 
| Der Mann griff kreidebleich zum Telefon, der Bär ging schnell | 
| Zur Tür, und er verschwand im Wald, gleich hinter dem Motel | 
| Er stapfte durch den Wald, der ihm jetzt fremd und feindlich schien | 
| Er ging, und nach und nach verließen seine Kräfte ihn | 
| «Ich muss jetzt darüber nachdenken», dachte sich der Bär | 
| «Was mit mir werden soll, wenn ich nur nicht so müde wär'!» | 
| Er setzte sich vor eine Höhle und starrte noch lang | 
| Ins Leere, hörte, wie der Schneesturm in den Bäumen sang | 
| Er spürte ihn nicht mehr und ließ sich ganz und gar zuschnei’n | 
| Und vor dem dritten Morgen seiner Reise schlief er ein |